David Mitchell – Die Knochenuhren

Auch wenn der Klappentext den angehenden Leser mit einer Fantasystory ködert, für den neuen Roman von David Mitchell sollte man sich Zeit nehmen, denn der britische Autor überrascht mit einem abwechslungsreichen Unterhaltungsroman, in dem er sich nicht scheut ernsthafte Themen unserer Zeit anzusprechen.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Holly Sykes. Ihre Lebensgeschichte bildet den Rahmen; sie ist allerdings nicht die Hauptfigur in allen Kapiteln. Diese werden, vom ersten und letzten abgesehen, von einer anderen Figur geschildert, die – das wird nicht immer sichtbar – in irgendeiner Form eine Verknüpfung zu Hollys Leben haben. So begegnet der Leser unsymphatischen Männern, wie dem zynischen und selbstgerechten Schriftsteller Crispin Hershey, der vor allem von seinem gutem Ruf als Enfant terrible der britischen Literatur lebt, inzwischen aber seinen Zenit weit überschritten hat und unter dem Erfolg jüngerer Autoren leidet. Oder Hugo Lamb, einem studentischen Betrüger und Dieb, gefühls- und skrupellos auch seinen engsten Mitstudenten gegenüber und ein ziemlicher Macho und Frauenhasser obendrauf.

Als Gegenpol dieser männlichen Asymphaten steht der Journalist Ed, Hauptfigur eines Kapitels mit (immer noch) aktuellem Hintergrund. Der engagierte und erfolgreiche Kriegsjournalist, selbst aus ungünstigsten Verhältnissen stammend, hat ein Problem: Die Liebe zum Beruf kollidiert mit seiner Verantwortung als Vater und Familienoberhaupt. Mitchell macht ihn mit seinen Schilderungen rund um den Irak-Krieg 2001 zum Dokumentaristen einer Welt, die für viele weit weg scheint. Der Roman ist an dieser Stelle weniger Unterhaltungsliteratur, sondern vielmehr persönliches Statement des Verfassers und kompromissloses Abbild eines bis heute schwelenden Konflikts und thematisiert eindringlich die Schwierigkeiten, die die Situation Vorort für Besatzer und Einheimische mit sich bringt. Ein ganz starker Teil dieses Buches, der äußerst nachdenklich stimmt.

Bleibt noch die fantastische Ebene des Buches: Sie handelt von einem jahrhundertealten Kampf zweier Gegenkräfte, der in der realen Welt stattfindet – und in dem Holly Sykes eine wesentliche Rolle spielt. Die teilweise spirituell auftretenden Hauptdarsteller entsprechen in ihrer Daseinsform Seelen oder Geistern.  Inhaltlich verbietet es sich, dazu etwas zu schreiben, denn anfänglich wird man nur sehr dosiert mit Informationen zu den Geschehnissen aus diesem Handlungsstrang versorgt und viele Fragen bleiben unbeantwortet. Spätestens in der zweiten Hälfte des Buches schärfen sich die Konturen und als Leser wird man auch mit dieser Welt heimisch.

Ein über 800 Seiten starker Roman, der in sechs größeren Kapiteln die Zeit von 1984 bis 2043 umspannt- das könnte anstrengend werden. Und zugegeben, den Spannungsfaktor in diesem Buch habe ich als nicht gleichbleibend empfunden. Vor dem „erwarteten“ Finale nimmt der Autor einige Abzweigungen. Wie gut(!), denn sonst würden die äußerst intelligenten und vernünftigen Gedanken von David Mitchell zu welt- und zukunftspolitischen Fragen fehlen. Mit feinem Gespür sind diese in die verschiedenen Kapitel eingearbeitet. Der britische Autor skizziert das zeittypische Ambiente jener Phasen detailreich und erinnert an so manche Unsitte aus vergangenen Tagen. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sich die Welt und das Leben der Menschen in so kurzer Zeit verändert haben. Wie könnte die Zukunft aussehen? Dieser Frage widmet sich Mitchell im letzten Kapitel – und das entworfene Szenario wirkte auf mich sehr realistisch und leider gut vorstellbar. So könnte man den folgenden Satz als Wachmacher und Warnung Mitchells (für die Gegenwärtigen – also uns alle!) verstehen:

„Nur wenige begriffen, dass eine sich ausdehnende Welt, in der die Technik Rückschritte macht, nicht nur möglich war, sondern schon in den Kulissen wartete.“

„Die Knochenuhren“ stellt nicht nur wegen des Umfangs den Leser vor eine Herausforderung. Wie begreift man diesen Roman nun? Ich fühlte mich beim Lesen an den Roman  „Mister Aufziehvogel“ von Haruki Murakami erinnert, in dem ebenfalls historische und  fantastische Elemente in ein reales Szenario verknüpft werden. Doch David Mitchell wagt schließlich mehr: Er wirft einen Blick in die nahe Zukunft und zeichnet ein düsteres Bild. Ohne den Zeigefinger zu heben, nutzt er den Roman als Aufklärungswerkzeug. Er stellt die Welt so dar, wie sie war – wie sie ist -und wie sie sein wird. Vielleicht liegt darin die große Leistung des Buches, dass dem Leser so vielseitige Angebote gemacht werden. Mein Hauptvergnügen wurde allerdings nicht aus der alles überspannenden Fantasystory gespeist – damit tue ich Mitchell wahrscheinlich Unrecht, denn er verknüpft alle Fäden stetig- vielmehr übten die einzelnen Segmente des Buches ihren besonderen Reiz auf mich aus..

Am Ende ist ein wunderbarer Roman entstanden, der in einigen Kapiteln völlig eigenständige Welten erschafft, die an sich schon als Solitäre taugen. Die  grandios ausgedachten und erzählten Geschichten, die menschliche Motivationen und charakterliche Schwächen hervorheben und nebenbei mit einer lockeren Geschichtsstunde aufwarten, lassen viel Raum für weitere, eigene Überlegungen. David Mitchell gelingt wieder ein unvergleichliches Werk, dass nicht einfach „nur“ unterhält, sondern am Ende nichts Geringeres wagt, als an das Gewissen und die Verantwortung der Menschheit zu appellieren.

DAVID MITCHELL, „Die Knochenuhren“, Rowohlt

Werbung

2 Kommentare zu „David Mitchell – Die Knochenuhren“

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s