Nathan Hill – Geister

Beim Thema Familiennachwuchs hört man oft den Satz „Das war so nicht geplant“. Ganz ähnlich erging es mir, denn noch einen 8oo-Seiten-Wälzer wollte ich in diesem Jahr nicht lesen. Schuld sind ja immer die Umstände oder andere  – in diesem Fall  Nathan Hill und sein Erstling „Geister“, der mich mit seinem erzählerischen Können von Seite zu Seite immer tiefer in eine ungewöhnliche Familiengeschichte zog –  und es um meinen „Vorsatz“ geschehen war.

Samuel Anderson-Andresen, Juniorprofessor für Literatur, als Kind eine Heulsuse, weswegen er sogar psychologisch betreut werden musste und seitdem mithilfe einer Kategorisierung der Heulanfälle das unerklärliche Auftreten unter Kontrolle zu bringen versucht, wird mit elf Jahren von seiner Mutter verlassen. Jene von einem norwegischen Übersiedler abstammende Frau wird zwanzig Jahre später als „Packer-Attacker“Berühmtheit erlangen  und dadurch beide, Sohn und Mutter, wieder zusammenführen.

Das unglaubliche Ereignis ist nicht mehr als ein Kiesel-Sand-Wurf auf einen demokratischen Präsidentschaftsanwärter, dass zu einem medialen Politikum hochstilisiert wird. Täterin ist Faye, Mutter von Samuel, die die ganze Härte des Justizwesens zu spüren bekommt. Samuel, der vor langer Zeit nach dem erfolgreichen Abdruck einer Kurzgeschichte einen Buchvertrag abgeschlossen hat, steckt in der Klemme. Der Vorschuss auf das Buch ist ausgegeben, der Roman nie begonnen und nun soll er wegen Nichteinhaltung des Vertrages die Summe zurückzahlen. Einziger Ausweg: Sein Verleger bietet ihm an,  mit einem Buch über seine Mutter würden sich seine Probleme lösen. Widerwillig läßt er sich auf den Deal ein. Doch ohne wirklich etwas über seine Mutter zu wissen, auf die er einen lange angestauten Groll hegt, wird ihm klar, dass er sie treffen muß, um an Informationen über ihr Leben zu kommen. Das erste Treffen gestaltet sich dann entsprechend schwierig, denn die Mutter bleibt wortkarg und läßt alle Fragen unbeantwortet:

„<Ich habe dir alles gesagt, was ich sagen kann.>

<Aber du hast mir nichts gesagt. Bitte, warum bist du weggegangen?>

<Ich kann nicht,> sagte sie. <Das ist etwas Persönliches.>

<Etwas Persönliches? Das kannst du unmöglich ernst meinen.>“

So beginnt Samuel die Vergangenheit seiner Familie zu erforschen. Er reist zu seinem dementen Großvater nach Iowa, trifft sich mit seinem Vater und besucht eine ehemalge Mitstudentin seiner Mutter, die sich inzwischen dem Kampf der aus Europa eingeschleppten (und nun der amerikanischen Vegetation zusetzenden) Knoblauchsrauke verschrieben hat. Hier erfährt er mehr über die einmonatige Aufenthaltsphase seiner Mutter 1968 in Chicago. Eine Zeitspanne, die Faye nie erwähnte und die in der Folge des Romans immer mehr in den Vordergrund rückt.

„Selbst wenn Sie die Geschichte ihrer Mom erfahren, ändern tut es nichts. Die Vergangenheit bleibt die Vergangenheit.“

Um diese Familiengeschichte entblättert Hill einen ganze Reihe von Kindheits-, Jugend- und Lebensgeschichten. Ob versunken in nordische Mystik und Romantik oder festgefahren in den einengenden Verhältnissen einer konservativen amerikanischen Kleinstadt, Hill versteht es die persönlichen Schicksale und die mit ihnen einhergehenden Gefühlswelten perfekt miteinander zu verbinden. Hier liegen Glück und Unglück, Hoffnung und Enttäuschung eng beieinander. Unerfahrenheit und Naivität in der Phase des Erwachsenwerdens enden oft auf Wegen, die im Rückblick – für alle Generationen gleichermaßen – zur Frage nach  einer „sinnvollen“ Lebensplanung führen. Was fängt man mit seinem Leben an? Schwierige Lebensumstände und gesellschaftliche Schranken sind nicht unüberwindbar, entscheidend ist die eigene Persönlichkeit.

Wie verschieden solche Schicksale aussehen können, wird an zwei Nebenfiguren deutlich, die mit der „Packer-Attacker“Story nicht direkt in Verbindung stehen. Zum einen wäre da die Studentin Laura Pottsdam, die von einer Karriere im gehobenen Marketing-Management träumt, sich während ihrer bisherigen Schulzeit vorallem mit Täuschung und Betrug durchgeschummelt hat und ihr Handeln mit gutem Gewissen vor sich selbst verteidigt – getreu dem Motto: Wenn die Gelegenheit sich bietet, warum sie nicht nutzen! – und die Schuld nur allzu locker an Andere abtritt. Dass sie trotz einer eingeschränkten Intelligenz bei ihren Lügen mit einer gewissen Raffinesse und jugendlichen Naivität erfolgreich ist, macht ihre Geschichte zu einer bitteren Note unseres gesellschaftlichen Lebens, in dem es eben heute machbar ist, unter Ausnutzung menschlicher und technischer Möglichkeiten Dinge zu erreichen, die für einen eigentlich unerreichbar sind.

„…aber im Moment MUSS ich wirkl betrügen, wl ich schon die ganze Zeit so viel betrogen habe u meistens überhaupt keinen Plan hab, worum es in meinen Kursen  überhaupt geht (⦿﹏ ⌾), dh, wenn ich jetzt auf einmal n mehr betrügen würde, würde ich voll die schlechten bekommen u vll sogar von der Uni fliegen, aber ich finde, wenn ich so oder so auf die Nase falle, kann ich eigentl auch gleich schummeln u wenigst noch gute Noten mitnehmen, die ich brauche, um eine erfolgr Geschäftsfrau zu werden…“

Die andere bemerkenswerte Nebenfigur ist wie Samuel aktiver Spieler eines Multiplayergames namens „World of Elfscape“ und nennt sich Pwnage. Der unter Übergewicht leidende Arbeitslose ernährt sich ausschließlich von Tiefkühl-Fertiggerichten und verbringt den Tag mit mehrstündigen Spielorgien. Während er in der virtuellen Welt bestens zurecht kommt und dort eine Art Held verkörpert, macht ihm die reale Welt schwer zu schaffen. Er möchte gerne seine Frau Lisa wieder zurückgewinnen, von der er vor einem Jahr verlassen wurde und hat sich dafür verschiedene Projekte überlegt. Allerdings schafft er deren Umsetzung nie, sei es eine Umstellung seiner Ernährungsgewohnheiten (großartige Szenen im Bio-Supermarkt!), die Küche zu renovieren oder einen Kriminalroman zu schreiben, für den er eine zwei Sätze umfassende Idee hat. Gefangen in seiner neuronal trainierten, schon pathologisch zu nennenden Spielsucht, die ihn von normalen Lebens- und Verhaltensweisen längst abgekoppelt hat und ihn zu einem multitasken Superspieler gemacht hat, ist er der Typus des in eine Parallelwelt Abgedrifteten, der seine positiven Impulse nicht mehr aus dem wirklichen Leben beziehen kann. Eine mitreissende Figur dessen innere Auseinandersetzung berührt.

„Nicht genau zu wissen, wann die Server wieder online gingen, rief bei Pwnage merkliche Stressgefühle hervor, was durchaus paradox war, da er Elfscape ja angeblich spielte, weil es ihm so effektiv beim Stressabbau half. Elfscape war sein Rettungsanker, sein Zufluchtsort, wenn ihn die ermüdenden Details seines Lebens zu sehr belasteten.“

Durch den Wechsel der Zeit- und Handlungsebenen, dem Springen zwischen den einzelnen Hauptfiguren entwickelt das Buch eine angenehme Dynamik, läßt den Leser sich nicht die Spur langweilen. Kontinuierlich werden die Puzzleteile der Familiengeschichte Stück für Stück eingesammelt. Der Rückblick auf die Ereignisse 1968 in Chicago spielt dabei eine wichtige Rolle, bietet er nicht nur Aufkärung über Fayes schicksalhaften Aufenthalt in der Metropole, sondern ist auch dokumentarische Chronik einer Zeit des Aufbruchs, die etwas in Vergessenheit geraten scheint. Der Autor bietet hierfür reichlich Raum; ob er seinem Publikum damit signalisieren möchte, sich heutzutage mehr öffentlich zu engagieren? Am Ende findet sich ein bemerkenswertes Resümee der Gegenwart:

„Was ist wahr? Was nicht? Für den Fall, dass es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, die Welt hat sich von der alten Vorstellung der Aufklärung , dass man sich die Wahrheit aus der Weltbeobachtung zusammenstückeln könnte, so gut wie verabschiedet. Die Wirklichkeit ist viel zu kompliziert und schrecklich geworden. Es ist weit einfacher, alles zu ignorieren, was nicht in Ihre vorgefasste Meinung passt, und stattdessen zu glauben, was Sie in Ihrem Denken bestätigt. Ich glaube, was ich glaube. Und Sie glauben, was Sie glauben. Und wir alle stimmen überein oder nicht. Das ist die Verbindung von liberaler Toleranz mit mittelalterlicher Leugnungsdogmatik. Sehr hip im Moment.“

Ohne Frage ist dieses Buch ein literarischer Glanzpunkt. Hills Art des Erzählens, seine wunderbar flüssige und abwechslungsreiche Sprache, fesselt. „Geister“erinnert mit seiner Tragikomik an Werke John Irvings und bereitet dabei mit sprachlicher Leichtigkeit pures Lesevergnügen. Die kurzweiligen Dialoge und die verschiedenen Erzählperspektiven lassen die über 800 Seiten wie im Fluge vorübergehen.  Mit Nathan Hill entdeckt man einen Autor, dessen schriftstellerisches Potential einen vielschichtigen und komplexen Roman trägt.


NATHAN HILL, „Geister“, Piper

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3 Kommentare zu „Nathan Hill – Geister“

  1. Aye…ich habe schon von anderr Seite Lobeshymnen über Geister gehört und nun wieder … eigentlich wollte ich dieses Jahr keinen dicken Wälzer mehr lesen 😉

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