Ben Lerner wurde jüngst vom Literaturmagazin Granta in die Liste der „Best of Young American Novelists 3“ aufgenommen und war im letzten Jahr mit seinen beiden Romanen „Abschied von Atocha“ und „22:04“ eine persönliche Neuentdeckung für mich. Dem als Lyriker bekannt gewordenen Amerikaner gelingt mit „22:04“ ein äußerst ungewöhnliches Buch, dass sich zugleich ernsthaft und humorvoll der „Lebensfrage“ seiner Generation annimmt.
Während der Roman gleich zu Beginn den zentralen Begriff – die Zukunft – zu erklären versucht und nebenbei seine Handlungsebenen eröffnet, fallen einem unweigerlich auch die Fotos auf: Nicht schön, nicht farbig – so sieht also die moderne Form der Illustration heutzutage aus. Das muss man einfach auf sich zu kommen lassen und dabei die großartige Erzählkunst Lerners geniessen.
Der vorallem in New York angelegte Roman, im Original 2014 erschienen, spiegelt in den unterschiedlichen Szenen ein aktuelles, gesellschaftliches Bild aus der Sicht seines Helden, besser gesagt: Seiner sozialen Schicht und Generation. Einer Generation, die als erste bewusst erlebt, dass die Aussicht auf eine einigermaßen vorhersagbare Zukunft – persönlich und beruflich – nicht mehr möglich ist. So sehr man sich an die alten planbaren Zeiten mit lebenslang gleichen Job, sicherer Familienplanung und sozialen Standards orientieren möchte – und damit die Lebensplanung der Eltern zu kopieren versucht -, steht sie nun vor einer Ungewissheit, die sie zu lähmen scheint. Das sich die Bedingungen – das Leben – inzwischen für alle geändert haben, scheint dabei übersehen zu werden: Freizeitliches Vergnügen und persönlicher Freiraum besitzen einen höheren Stellenwert in der Realität. Neue kulturelle Werte fließen in den Alltagskanon ein, mediale Einflüße stellen die Spitze, wenn nicht den einschneidenden Faktor dar. Kinofilme, TV-Serien und ihre Helden prägen den Werte- und Bildungshintergrund einer Generation, wie nie zuvor. So ist der Titel des Buches eine Hommage an die „Zurück in die Zukunft“-Filme. Die benannte Uhrzeit Zeitpunkt des Blitzeinschlages, der Marty die Rückkehr in die Zukunft ermöglicht.
Und so ist das Thema des Buches – oder die Suche des Ich-Erzählers – auch schon erklärt. Nur, ganz so simpel ist das Buch nicht. Denn manchmal geht es ganz schön komplex oder theoretisch zu. Wer Schwierigkeiten hatte den ersten Teil zu verstehen, erhält gleich nochmal eine Zusammenfassung und Lerners virtuoses Spiel des Durchbrechens üblicher Lesegewohnheiten erreicht seinen ersten Höhepunkt: Die Erzählung im Roman. Sie fasst die bisherige Romanhandlung nochmals zusammen, nur ist der Erzählton deutlich geschliffener als im realen Romanteil.
Ben (der Ich-Erzähler!) seglt durch die Gewässer des Lebens, wobei ihn eher die Winde durch das Leben treiben, als dass er das Steuer selbst in der Hand hält. Einen Kurs gibt es in Form vieler Ideen, die jedoch recht halbherzig verfolgt werden. Ben ist ein Softie, sensibel und introvertiert, unpraktisch veranlagt und gesundheitlich angeschlagen. Mit seinen 33 Jahren gehört er zu den hoffnungsvollen Nachwuchsautoren, nur das eine Schreibblockade weiteres verhindert. Die Frauen in seinem Leben haben seltsamerweise alle einen Vornamen der mit „A“ anfängt. Eine vollwertige Beziehung hat er mit keiner. Eine ist eine Art beste Freundin und kommt der Rolle der festen Freundin oder Lebensgefährtin am nächsten. Mit einer anderen unterhält er eine rein körperliche Beziehung. Die Dritte im Bunde ist seine Agentin. Eine gute Ratgeberin, deren Empfehlungen Ben allerdings leider nicht immer folgt.
Wo steht der moderne Single in der heutigen Welt? Seine Zukunftsaussichten scheinen vielfältig und variabel: Ben steht die Welt und das Leben offen. Verschiedene Optionen bieten sich ihm an, allein sein Vermögen mit diesen Möglichkeiten umzugehen, ist mangelhaft ausgeprägt. Bedenken stehen im Weg, die Sorge um die eigene Gesundheit schwächen die Psyche und lenken von anderen Zielen ab. Die Vorstellung von der eigenen Familie mit Frau und Kind ist immer noch Idee, und so richtig weiß er eigentlich auch nicht, ob er daran festhalten will. Der allgemeine Wohlstand suggeriert ihm ein „alles ist möglich“ und verschärft gleichzeitig eine Passivität im Denken und Handeln, verführt zu einem „in-den-Tag-leben“.
Dem Autor gelingt ein fantasievolles und mit kurioser Komik durchsetztes Buch. Wunderbar die Gedankenwelt und die Verhaltensweisen Bens, ob bei der Erarbeitung eines Schülerprojektes oder bei der Abgabe einer Samenspende für die künstliche Befruchtung seiner platonischen Freundin Alex. Mit ihr hat er die Angewohnheit nebeneinander spazieren zu gehen, ohne sich anzuschauen. Beider Blick immer nach vorne gerichtet, egal ob sie sich unterhalten. Selbst wenn einer von beiden dabei weinen sollte, zeugt nur eine um die Schulter gelegte Hand für Außenstehende vom gegenseitigen Mitgefühl. Alex Wunsch nach einem Kind ist akut, jedoch kommt Sex für sie nicht in Frage. Bens Abgabe der Samenspende wird zu einer lebensphilosophischen (und für den Leser äußerst amüsanten) Krisensituation und bietet den Blick auf einen Teil einer verunsicherten männlichen Spezies, die völlig verkopft ist und was praktische Arbeit angeht, eher unbrauchbar ist. Selbst leichteste Tätigkeiten, wie der Einsatz im Laden einer Lebensmittelgenossenschaft, werden für Ben zu einer unlösbaren Hürde.
Am Ende versöhnt der Roman den Leser mit keiner besonderen Pointe, belohnt dafür mit einer abwechslungsreichen, sprachgewaltigen Erzählstunde. Viel verändert hat sich im Leben von Ben nicht. Welche Zukunft er sich vorstellt oder auf welche er hinarbeitet – seine Unentschlossenheit und unstrukturierte Planung bringen ihn um mögliche Erfolge, die seinem Leben neue Impulse und Sicherheit geben könnten. So verplempert er den Vorschuß für sein Romanprojekt bewusst, die eigentlich vereinbarte Arbeit bringt er nicht zustande.
Beim Lesen stieß ich immer mal auf Sätze, denen ich auch nach mehrmaligen Lesen inhaltlich nicht folgen konnte. Sie blieben für mich eine Art unlösbarer Code aus fremden Wörtern und grammatikalischer Finesse – das alles schien mir nicht zum ansonsten unterhaltenden und äußerst flüssigen Erzählton zu passen. Ausgesprochen gut hat mir die aufgebrochene Struktur gefallen. Mit den eingefügten Fotografien, den vielen aktuellen Bezügen zu politischen Bewegungen und sozialen (Lebens-)Trends schafft Ben Lerner ein zeitgemäßes Abbild der amerikanischen Stadt der Superlative.
Und so ist „22:04“, in den Worten des Ich-Erzählers, …
„… ein Buch, das wie ein Gedicht weder Fiktion noch Nichtfiktion, sondern ein Flimmern dazwischen ist…“
Letztendlich wird man in diesem Fall mit einem modernen New York-Roman belohnt: Ben Lerner verknüpft die gedanklichen und realen Lebensfäden eines New Yorker Mitdreißigers und Intellektuellen, der auf der Suche nach (s)einer Zukunft ist mit vielen schönen Geschichten, netten Einfällen, leisem Humor und einer gehörigen Portion Schwarzsehen und Skepsis. Was er finden wird, kann jeder selbst entscheiden.
BEN LERNER, „22:04“, Rowohlt
