Colson Whitehead – Underground Railroad

National Book Award“, „Pulitzer-Preis“, mehrfach Buch des Jahres 2016 – „Underground Railroad“ ist einer der vielbeachtesten Romane der USA des letzten Jahres. Mit den Ereignissen der vergangenen Wochen in Charlottesville hat das Erscheinen der deutschen Übersetzung in diesem Monat einen aktuellen Bezug bekommen und es wird klar, wie präsent die Themen Rassismus und Freiheit weiterhin sind. Whiteheads Roman ist ein Blick in die Vergangenheit, eindrucksvoll in eine spannende Handlung verpackt.

Für viele wird der 1969 in New York geborene Colson Whitehead sicherlich ein neuer Name sein, ein unbekannter Autor ist er allerdings nicht. Seine Romane sind in den zurückliegenden Jahren auf deutsch erschienen, ein größeres Publikum blieb ihnen trotz guter Kritiken jedoch verwehrt. Ich habe bereits drei unterschiedliche Werke von ihm gelesen, die mir vorallem wegen ihres feinen, unterschwelligen Humors gut gefallen haben: „Apex“ (eine Werbesatire aus der Provinz), „Der Koloß von New York“ (eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt) und „Zone One“ (eine Zombiedystopie). „Underground Railroad“ entstand in der Amtsperiode von Barack Obama und Whitehead spricht in einem aktuellen Interview von „einem Erstarken des weißen Nationalismus“.

In seinem neuen Buch befasst sich Colson Whitehead mit einem historischen Stoff, der bis heute in der amerikanischen Gesellschaft für Konflikte sorgt. Die aus der Sklavenhaltung hervorgegangene Spaltung der Bevölkerung, in der Teile der weißen Mehrheit nach wie vor Ressentiments haben, gehört zu den tiefliegendsten Problemen der USA. Keine leichte Kost ist das Abtauchen in die Vergangenheit, dem Ursprung all dessen. Hinein in die Zeit, in der bereits erkannt wurde, dass die Sklaverei kein Zukunftsmodell sein kann. Die Gegner, die Abolitionisten, waren vorallem in den Nordstaaten, wo die Sklaverei gesetzlich abgeschaffft wurde, während in den Südstaaten weiterhin an den alten Gegebenheiten festgehalten wurde. Im Mittelpunkt standen enorme wirtschaftliche Interessen. Die großen Plantagen funktionierten bereits streng profitorientiert, die Sklaven stellten einen monetären Faktor dar – und wurden auch so behandelt.

„Wenn man ein Ding war – ein Karren, ein Pferd oder ein Sklave -, bestimmte der Wert, den man besaß, die Möglichkeiten, die man hatte. … und mit der Veränderung dieses Wertes veränderte sich auch alles andere. … Kenne Deinen Wert und du kennst deinen Platz in der Ordnung.“

Mit dem Menschenhandel im 18. Jahrhundert, also der Versklavung afrikanischer Einwohner und deren Verschiffung auf den amerikanischen Kontinent nimmt diese Geschichte ihren Anfang. Cora, Hauptfigur des Romans, ist die dritte Generation einer dieser gefangen genommenen und lebenslang ihrer Freiheit beraubten Frauen. Ihre Großmutter wird von ihrer Familie getrennt und mehrmals verkauft. Irgendwann bleibt sie auf einer großen Baumwollplantage in Georgia, bringt fünf Kinder zur Welt, von denen nur ein Mädchen überlebt. Mabel, Coras Mutter, verschwindet eines Tages und lässt ihre zehnjährige Tochter allein in einer Welt zurück, in der alle um ihr Wohl kämpfen müssen. Obwohl die Sklaven eine Gemeinschaft bilden, gefangen und unterdrückt, der Willkür ihrer „Herren“ ausgesetzt, bilden sie untereinander eine eigene Gesellschaft in der Neid und Missgunst herrschen. Cora verliert schnell die Privilegien die ihre Großmutter erkämpft hatte, gehört zu den Isolierten, den Komischen, den Verrückten. Sie wird zur Frau, doch die Männer trauen ihr nicht, zuviele Gerüchte und Geschichten sind im Laufe der Zeit über sie entstanden. Nur der junge Caesar findet Interese an der inzwischen Siebzehnjährigen und schlägt ihr etwas unvorstellbares vor: Die Flucht in die Freiheit!

Nach einem Zwischenfall, bei dem sie sich schützend vor einen anderen Sklaven stellt, gerät sie ins Visier des Plantagenbesitzers und wird schmerzhaft bestraft. Cora, von dem Gedanken beherrscht, das ihre Mutter erfolgreich geflüchtet ist, beschliesst mit Caesar den Versuch zu unternehmen. Der hat einen Kontakt zur Underground Railroad. Ihr Weg in die Freiheit beginnt und wird eine nie endende Flucht. Denn die Plantagenbesitzer wollen ihr Eigentum nicht einfach so aufgeben. Sie beauftragen sogenannte Sklavenjäger mit der Suche nach den Flüchtigen. Die Zurückgebrachten dienen dann als abschreckendes Beispiel, werden auf grausamste Art in aller Öffentlichkeit zu Tode gequält.

„… mit dem Ausmaß an Gewalttätigkeit kam sie nur schwer zurecht. Noch stärker als das Geld, das in der Baumwolle steckte, trieb Angst diese Leute an.“

„Eines musste man dem Süden lassen, er war nicht geduldig, wenn es um das Umbringen von Negern war.“

Die erste Station ist South Carolina. Schnell leben sich beide in die offene, schwarzenfreundliche Gesellschaft ein, erhalten Arbeit und Unterkunft. Sie richten sich in ihrem neuen Leben ein und der Drang weiterzuziehen, weiter weg vom unheilvollen Georgia und der Plantage, verflüchtigt sich allmählich. Während dieser Zeit wird allerdings auch deutlich, dass die aufgeklärteren weißen Amerikaner nicht nur hilfsbereite, moderne Menschen sind. Sie beschränken den Bildungszugang, verklären die Geschichte der Sklaverei, versuchen die Fortpflanzung zu unterbinden und benutzen die Unwissenden als leicht zu ködernde medizinische Versuchsobjekte. Gemäßigter Fortschritt also.

Irgendwann ist alles plötzlich zu Ende, denn sie werden aufgespürt vom unerbittlichenen Ridgeway, einem erfahrenen Sklavenjäger, der angeheuert wurde, die beiden Entflohenen einzufangen. Ohne Caesar, mit Hilfe fremder Menschen führt die Flucht Cora durch weitere Staaten. Ein Katz-und-Mausspiel bis zum Ende des Buches. Für die junge, ehemalige Sklavin ein nervenaufreibendes, von ständiger Angst geprägtes Erleben ihrer vermeintlichen Freiheit. Je mehr sie auf ihrer Reise durch die nördlichen Staaten von der realen Welt erfährt, mehren sich Zweifel in ihr. Die Unabhängigkeitserklärung, die einer der Mitsklaven von Cora immer aufsagte, wird für sie immer mehr zu einer Worthülse, einer Theorie die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Sie resümiert darüber immer wieder und ihre Hoffnung auf ein freiheitliches Leben schwindet.

„Die Weißen kamen in dieses Land, um einen Neuanfang zu machen und um der Tyrannei ihrer Herren zu entfliehen, genau wie die Freigelassenen vor ihnen geflohen waren. Aber die Ideale, die sie für sich selbst hochhielten, enthielten sie anderen vor. Damals auf der Plantage hatte Cora Michael oft die Unabhängigkeitserklärung aufsagen hören, und seine Stimme war wie ein zorniges Phantom durchs Dorf geschwebt. Sie verstand die Worte nicht, jedenfalls die meisten, aber „gleich geschaffen“ entging ihr nicht. Wenn „alle“ Menschen nicht tatsächlich alle Menschen hieß, verstanden die weißen Männer, die sie geschrieben hatten, sie auch nicht. Nicht, wenn sie anderen Menschen entrissen, was diesen gehörte, ob es nun etwas war, was man in den Händen halten konnte, wie Erde, oder etwas, was man nicht in den Händen halten konnte, wie die Freiheit.“

Die Underground Railroad, die es wirklich gab, wird von Whitehead in eine zweite Realität gesetzt. Unterirdisch, wie eine Untergrundbahn, fährt sie die Flüchtigen in die Freiheit. Unter der Bezeichnung Underground Railroad entwickelte sich einst ein Netzwerk aus vielen Helfern, darunter auch ehemalige Sklaven, das Schwarzen die Flucht in die nördlichen Staaten und Kanada ermöglichte. Der Ausbruch aus der Gefangenschaft war ein einmaliger Versuch, der im Scheitern den sicheren, besonders qualvollen Tod bedeutete. Auch im Erfolgsfall gab es keine Garantie, nicht wieder von einem Sklavenjäger wiedergefunden und zurückgebracht zu werden. Der Mut unter diesem enormem Druck es trotzdem zu versuchen, verdient allen Respekt. Dank couragierter Helfer, die sich ebenfalls erheblicher Gefahr für Leib und Leben aussetzten, gelangen viele Versuche.

Colson Whitehead widmet sein Buch einem düsteren Kapitel der amerikanischen Geschichte. Aus der Sklavenhaltung, einhergehend mit Verschleppung, Misshandlung und Willkür, entwickelte sich ein Rassismus, der in ungezügelter Form Bestrafungen und Mord verübte, außerhalb aller heutigen Vorstellungen. Der Autor bringt diese Wirklichkeit zu Papier. Keine schöne Welt, eine leidenende, traurige und voller Angst. Sein Ton schafft den Spagat zwischen großer Emotionalität und objektiver Erzählung. Ein ausgewogenes Verhältnis, doch es fällt nicht immer leicht, einfach weiterzulesen. Zu bedrückend sind die geschilderten Situationen und die Gefühle der versklavten Afroamerikaner.

„Zuerst sind die Menschen gut, und dann macht die Welt sie gemein. Die Welt ist von Anfang an gemein und wird jeden Tag gemeiner. Sie zehrt einen auf, bis man nur noch vom Tod träumt.“

Die Flucht vor Armut, Unterdrückung oder Tod trägt allerdings auch sehr aktuelle Züge. Beim Lesen treten einem unweigerlich die weltweiten Flüchtingsströme vor Augen. Die Bilder der Menschen, die derzeit alles riskieren und dann in eine Welt kommen, die sich ihnen nicht völlig aufgeschlossen zeigt, bringt einen schon darüber ins Grübeln, wie es denn wirklich um die Menschlichkeit und die vielgepriesenen Menschenrechte so steht.  So trägt der Roman nicht nur eine innenpolitische Brisanz für die USA in sich, sondern regt anhand eines historischen Stoffes auch zum Nachdenken über die weltweite Flüchtlingsproblematik an und macht deutlich, dass Menschen immer wieder für ihre Freiheit und ihre Gleichberechtigung kämpfen müssen.

„Underground Railroad“ ist in erster Linie ein Roman über den Rassismus und seine Auswüchse. Colson Whitehead gelingt die Schilderung der psychischen Verfassung der Unterdrückten eindringlich und nachhaltig. Daneben ist das Buch ein Plädoyer für Menschlichkeit, für das Recht auf persönliche Freiheit und eine Geschichte von Flucht und Verfolgung. Die Underground Railroad steht dabei für die Hoffnung und das Wissen, das Menschen einander helfen und dafür bereit sind, einiges zu riskieren.


COLSON WHITEHEAD, „Underground Railroad“, Hanser

Whitehead_25655_MR3.indd
(c) Hanser

 

 

 

 

 

Auch meine nächste Buchbesprechung – George Pelecanos, „Hard Revolution“ – setzt sich mit dem Thema des amerikanischen Rassismus auseinander, diesmal im Jahr 1968 während der Unruhen in Washington, D.C.

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7 Kommentare zu „Colson Whitehead – Underground Railroad“

  1. Wow, epische Rezension eines – wie man derzeit von fast allen Seiten hört – wohl ziemlich lesenswerten Romans. Whitehead ist noch ein weißer Fleck in meinem Leserlebe, mit „Underground Railroad“ sollte ich das mal ändern. Beste Grüße!

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    1. Gut so! Ist ein absolut empfehlenswertes Buch, auch wenn das Geschilderte nicht nur „Freude“ bereitet. Ich habe ganz vergessen „Menschenkind“ von Toni Morrison als weitere Lektüre zu erwähnen. Dann jetzt hier 😉

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