Wer einen durchkonstruierten Krimi lesen möchte, wird von „Sarah Jane“, dem neuesten Roman des Amerikaners James Sallis, enttäuscht werden. Vielmehr vereint dieser ungewöhnliche Band unzählige kleine Geschichten und verleitet mit seinen klugen Einschüben über das Leben und unser Dasein zum unverhofften Nachdenken. Dass dabei immer wieder ein unterschwelliges Schmunzeln beim Lesen entsteht, zeugt von der Schreibfertigkeit des Autoren.
Nie bleiben, wo man gerade ist, Weiterziehen und nicht zurückkehren. So könnte man das Lebenscredo von Sarah Jane Pullmann umschreiben. Und diese unkonstante Verhaltensweise lässt sich auch auf die Jobs, die Bekanntschaften, die Lebensweise dieser ungewöhnlichen Frau anwenden. Kurzum: Sarah Jane hat in ihrem Leben schon an vielen Orten sehr viele unterschiedliche Dinge erlebt. Vielleicht ist diese Wechselbereitschaft eine Mitgift ihrer Mutter, die sich immer wieder von ihrer Familie absetzte, um irgendwann für eine ungewisse Zeit im Leben von Vater und Tochter wieder aufzutauchen.
„Ich bin in einer Stadt namens Selmer aufgewachsen, unten, wo Tennessee und Alabama sich treffen und irgendwie zu einem eigenen Land werden, in einem Haus, das sich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens darauf vorbereitete, den Hügel hinunterzurutschen, was es, direkt nachdem ich ausgezogen war, auch tat.“
Es dauert ein wenig, bis wir mit Sarah in der Gegenwart ankommen. Davor erfahren wir vom Lebens-Roadtrip, der die in der Mitte des Lebens stehende Frau als Ex-Ehefrau und Mutter, Ex-Soldatin und Köchin oder als Polizistin auflistet. Am Ende dieser durchaus weiter aufzählbaren Aneinanderreihung von Jobs steht der Posten als Sheriff im kleinen Ort Farr. Dass sie der Weg an diese Position brachte, liegt an ihrem ausgeprägten instinktiven Verhalten, das Sarah selbst als ihre Fähigkeit, Menschen gut einschätzen zu können, beschreibt.
„Der gesunde Menschenverstand sagt, wenn man eine Aufgabe übernimmt und keinen Schimmer hat, was man tut, dann zieht man den Kopf ein, strengt sich ordentlich an und wächst mit seinen Aufgaben. In Wahrheit ist es aber eher so, als würde man ein Kleid eine Nummer zu klein kaufen und sich einreden, dass es dadurch leichter würde, ein paar Pfunde abzulegen.“
Natürlich hat dieses Leben gute und schlechte Phasen gesehen. Einiges bleibt im Dunkel; bis zum Ende ist sich die Erzählerin darin treu, nur preiszugeben, was sie möchte. Überhaupt werden viele Dinge angenehm kurz erzählt. Keine Spuren von Eitelkeit oder Beschönigung. Ehrlich und offen wird von Unzulänglichkeiten und immer wieder auftretender Nachlässigkeit berichtet, die phasenweise Überhand nehmen. Meist nach glücklicheren Zeiten, die oft schwierig enden, ohne das Sarah dafür verantwortlich ist. Ein nachgeholter College-Abschluss sorgt für einen Bildungsschub und ist Grundlage für viele Zitate und Einschübe. Anregungen über die Sarah nachdenkt, die sie mit ihren Erfahrungen, auch aus ihren Bekanntschaften, abgleicht.
„Wir werden nie wissen, wie andere die Welt sehen, werden nie wissen, was in ihren Köpfen herumgeistert …“
Auf nur 218 Seiten bringt es „Sarah Jane“. Eine schnell gelesene Lektüre, könnte man meinen. Doch dieses kleine Buch ist intensiv, denn James Sallis beherrscht seinen kurzgehaltenen Erzählstil perfekt. Großzügiger ist der Autor an den Stellen, wo es hintergründig wird und seine Erzählerin philosophiert. Seine Figuren kommen und gehen mit den vielen Ereignissen, ohne das sie dabei willkürlich eingesetzt wirken. Im Mittelpunkt stehen Sarah Jane und einige wenige Vertraute von ihr, die episodenhaft im Roman vorkommen. Eine konstante Besetzung gibt es erst in der Phase in Farr. Hier verweilt die unverhofft zum Sheriff Berufene erstmals seit ihrer Kindheit länger. Die Darstellung des Alltags in einer lokalen Polizeistation in der Provinz hat alles zu bieten, inclusive dem mysteriösen Verschwinden des vorherigen Amtsinhabers. Der bisher unerwähnt gebliebene Spannungsbogen, weil eher im Hintergrund und nur partiell eingesetzt, verstärkt sich zum Ende, auch weil die Vergangenheit Sarah einholt. Wird sie wieder weiterziehen?
„Ich habe nicht die Sachen gemacht, die man mir andichtet. Zumindest nicht alle.“
Eindeutig ist an diesem Buch nichts. Weder die Lebenserzählung und der Lebenswandel der Hauptfigur, noch die Zuordnung des Romans zu einem bestimmten Literaturgenre. Diese Verweigerung einer Zuordnung ist das Qualitätsmerkmal, mit dem James Sallis auf ungewöhnliche Art zu unterhalten vermag. Mir gefällt das.
JAMES SALLIS, „Sarah Jane“, Liebeskind