Colson Whitehead – Harlem Shuffle

Nach zwei thematisch bedrückenden Romanen ( „Underground Railroad“ und „Die Nickel Boys“), für die er jeweils mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, veröffentlicht der Amerikaner Colson Whitehead nun mit „Harlem Shuffle“ einen an das Krimigenre angelehnten Roman und führt seine chronistische Darstellung des Lebens der schwarzen Bevölkerungsgruppe der Vereinigten Staaten fort.

Auf welcher Seite steht man? Diese Frage stellt sich Ray Carney im Verlauf seines Lebens immer wieder. Der Inhaber eines Möbelgeschäfts in der 125th Street Ecke Morningside Avenue hat Frau und zwei Kinder und versucht als rechtschaffender Geschäftsmann im pulsierenden New Yorker Stadtteil Harlem sein Auskommen mit dem Verkauf von neuen und gebrauchten Möbeln zu machen. Dabei ist er recht erfolgreich und bietet auch im Trend stehende Markenware an, die er an aufstrebende Paare verkauft. Wer weniger Geld zur Verfügung hat, findet bei ihm auch Gelegenheiten, denn Carney verkauft außerdem gebrauchte Ware.

Immer wieder werden ihm Dinge angeboten, die nicht unbedingt Verkaufsgegenstand eines Möbelladens sind. Ob Musiktruhen oder Schmuck, die Herkunft dieser Sachen ist meist unklar. Carney betätigt sich in kleinem Rahmen als Zwischenhändler und fragt nicht nach. Ein Zusatzverdienst, der hilft seinen Traum von einer besseren Wohnsituation zu verwirklichen. Nach der Arbeit läuft er oft durch die Straßenzüge seines Viertels und taxiert die Häuser, die er für erstrebenswert hält.

„Carney ging abends auf Erkundung, überprüfte die Flucht der Gebäude aus unterschiedlichen Winkeln, spazierte über die Straße, ließ den Blick nach oben wandern, spekulierte über die Aussicht bei Sonnenuntergang, entschied sich dann für ein Haus und darin für eine einzelne Wohnung. … Eines Tages, wenn er Geld hätte. „

Im Harlem der beginnenden sechziger Jahre leben die meisten Menschen in einfachsten Verhältnissen. Im rassistisch geprägten Amerika dieser Zeit bleibt die weiße Gesellschaft in anderen Teilen der Stadt lieber unter sich und dominiert ihre Macht durch den Neubau von Wolkenkratzern. Der Beginn der aufkommenden Antirassismusbewegungen kratzt an diesem Bild, der gewaltsame Tod eines schwarzen Jungen durch einen Polizisten bringt auch New York erste unkontrollierte Straßenproteste. Der beginnende Wandel zeigt sich in den besseren Wohnanlagen am Riverside Drive, wo weiße und schwarze Familien zusammen leben.

Mit „Harlem Shuffle“ begibt man sich auf eine Reise durch das New York vergangener Tage. Mit einem sehnsüchtigen Blick adressiert Whitehead Wohnhäuser, Hotels, kleine Bars und Wäschereien, Restaurants oder Zeitungsläden wie berühmte Sehenswürdigkeiten. Das sie heute größtenteils nicht wiedererkennbar oder verschwunden sind, erwähnt der Autor nicht. Seine Absicht ist dennoch eindeutig: Der Austausch der ursprünglichen Bewohner hat auch, wie überall auf der Welt, nicht vor Harlem halt gemacht. Mit der Schilderung der gespaltenen Gesellschaftsverhältnisse verdeutlicht Colson Whitehead die absurde Entwicklung von einer No-Go-Area zu einem Ort für Spekulanten und Besserverdienende, die mit der Geschichte des Ortes nichts gemein haben.

„Die Cousins hatten sich auseinanderentwickelt. Weil ihre Mütter Schwestern waren, hatten sie einiges gemeinsam, aber sie hatten im Lauf der Jahre unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Wie die Reihe von Häusern auf der anderen Straßenseite – andere Menschen und die Jahre ließen sie vom ursprünglichen Plan abweichen. Die Stadt packte alles mit ihren Klauen und beförderte es hierhin und dahin.“

Wie bereits erwähnt, dieser Roman ist auch ein Krimi und mit der Figur des Freddie wird das gegensätzliche Bild möglicher Lebenswege dargestellt. Freddie und Ray sind Cousins. In der Kindheit eng verbunden, wie Brüder, beschreiten sie verschiedene Zukunftswege. Während Ray unbedingt nicht in die Fußstapfen seines Vaters Mike treten will, bei dem es sich vermutlich um einen berühmten Harlemer Kriminellen handelt, und studiert, lässt Freddie sich treiben und lebt von wechselnden Gelegenheiten. Immer wieder zieht er Ray in seine Angelegenheiten mit hinein. Viel öfter, als Ray es lieb ist, muss er seinem Cousin aus der Bredouille helfen, denn Freddie verhält sich nicht immer allzu clever und überschätzt sich. So spitzen sich über die Jahre die Ereignisse zu und Ray wird immer mehr in die kriminellen Abgründe gezogen und muss sich mit Schutzgelderpressungen, korrupten Polizisten und Schlägern herumägern. Während er von seiner Stellung als illegaler Zwischenhändler finanziell profitiert, verstärkt sich sein Bestreben im legalen Geschäftsbetrieb weiter aufzusteigen. Auf welcher Seite steht man? Das ist nach wie vor die für Ray alles entscheidende Frage und der clevere Geschäftsmann lernt mit der Zeit seine ganz eigene Antwort darauf zu finden.

Der neue Roman von Colson Whitehead ist deutlich zugänglicher und unterhaltsamer als seine Vorgänger. Entstanden ist ein Buch voller Lokalkolorit mit unzähligen adressierten Hinweisen, mit denen man sich auf einem Stadtplan seine eigene kleine Harlem-Tour zusammenstellen kann. Von einigen historischen Figuren abgesehen, taucht „Harlem Shuffle“ vor allem tief in das Milieu der kleinen Leute, der Gauner und der kriminell Organisierten ein und zeichnet ein lebendiges Bild des Stadtviertels, in dem die afroamerikanische Kultur dominiert. Neben dem handlungstragenden Spannungsbogen reflektiert der Roman die Wünsche und Hoffnungen normaler Leute, die mit ihrer ehrlichen Arbeit am Wohlstand der Gemeinschaft teilhaben möchten. Colson Whitehead vermeidet den genaueren Blick auf die politischen Anstrengungen, sie sind nur begleitende Faktoren. Das Geschehen konzentriert sich auf den Mikrokosmos einiger genauestens gezeichneter Personen.

Bemerkenswert an diesem Buch ist die Darstellung des Umstandes, dass die Spaltung der Gesellschaft, also der Alltagsrassismus, nicht nur durch die Unterteilung nach der Hautfarbe, sondern auch durch die gesellschaftliche Stelllung existiert. So betrachten die Eltern von Rays Ehefrau, deren Familie zu den ersten besser gestellten schwarzen Amerikanern zählt, ihren Schwiegersohn als nicht gleichwertig an und verhalten sich ihm gegenüber herablassend. Diese unsolidarische Haltung erzeugt in Ray eine entsprechende innere Blockade und stachelt gleichzeitig seinen Ehrgeiz nach gesellschaftlichem Aufstieg an.

Das inzwischen in der heutigen Zeit ein gewisser Wandel stattfindet, belegt die Umbennung eines Straßenzugs der 125th Street, der im Roman im Mittelpunkt steht: Er heißt jetzt Martin Luther King Boulevard.


COLSON WHITEHEAD, „Harlem Shuffle“, Hanser

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(c)Hanser
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